Studium 70er-80er Jahre

 

 

Hier jetzt als Fortsetzung die Illustration eines Zitats von Karl Jaspers: ein exemplarischer Fall an der Universität Gießen in den 70er und 80er Jahren

            83,1 -0003-CHRISTINIDIS-rechts MA-1, Makro. Color5 - Ausschnitt - B 400

der Dozent Andreas Christinidis

 

           Zunächst also das Zitat von Jaspers:

<Der Sündenfall der Universitätslehre beginnt, wenn man den Besuch gewisser Vorlesungen und Übungen obligatorisch macht. Dann kommt man schließlich zu einer Reglementierung des Studiums. Die Verschulung will gute Durchschnittserfolge im Besitz von Lernbarkeiten mit einiger Sicherheit erzielen. Auf diesem für die Universität verderblichen Weg erstickt mit der Freiheit des Lernens zugleich auch das Leben des Geistes. Denn dieses ist immer ein glückliches, unberechenbares Gelingen im Strom des Versagenden, nicht als Fabrikat des Durchschnitts zu erzielen. – Die Unfrohheit von Lehrer und Schüler in den Fesseln von Lehrplänen und Studienordnungen, von Kontrollen und Massenleistungen, die Schwunglosigkeit der verständigen Sachlichkeit sind der Ausdruck einer Atmosphäre, in der wohl gute Resultate technischen Könnens und abfragbaren Wissens erzielt werden, aber das eigentliche Erkennen, das Wagende des Forschens und Sehens, unmöglich wird (…)>

Aus: Idee 1961, S.74 ff.

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Zur Eröffnung ein Foto aus einem meiner diversen Christinidis-Seminare

83,1 -0010-CHRISTINIDIS-Seminar mit Studenten-1, denoise, inpaint-560

 

Der Mittlere da am rechten Tisch bin ich selber. – Andreas war ein begeisterter Raucher. Wie man erkennen kann, hat er hier zwei Schachteln Zigaretten.

Das Foto ist von 1983 in einem Raum von Haus E (Soziologie und Politik) des Fachbereichs (FB) 03 der Justus-Liebig-Universität (JLU) Gießen;  auch Phil II  (Philosophikum zweiter Klasse?), ursprünglich AfE (Abteilung für Erziehung), heutzutage “Sozial- und Kulturwissenschaften” genannt. (Wie wird es in Zukunft wohl heißen?). Er selber gehörte zum “Institut für Politikwissenschaft”.

 

Ich denke, er hatte 2 Phasen an der Uni. Die erste Phase war nach dem Obristen-Putsch in Griechenland 1967  – weshalb er als Linker nach Deutschland emigrierte. [“Sympathisanten der Linken und potenzielle Gegner wurden verhaftet. Am Ende der ersten Woche waren nach Schätzungen von Amnesty International mindestens 8000 Menschen im Gefängnis.” Aus: Spiegel-Geschichte]

In Deutschland war er an der Uni Gießen im FB 03 für „Faschismus-Theorie“ zuständig. So habe ich ihn unsprünglich in den 70ern erlebt. Ich schrieb da eine Seminararbeit, auf die ich mir was einbildete, und ich kam dann mal nach den Semesterferien in seine Sprechstunde, um ihn darauf anzusprechen. Da zeigte er hinter sich in eine Ecke, wo ein halb-dreiviertelmeter hoher Stapel offenbar von etlichen solcherlei Seminararbeiten aufgehäuft ruhig & friedlich und dem Anschein nach nie angerührt, lagen. Er schleuste also Jahr für Jahr jede Menge Student*innen durch sein Faschismus-Seminar, für das er als Spezialist offiziell in Gießen am Politik-Institut zuständig war.

 

In der zweiten Phase hatte er sich sozusagen emanzipiert und ist als Dozent (der übrigens nicht prüfungsberechtigt war) ausgeschert in andere Themen, für welche die SPD-Politik-Profs, die dort beim Politik-Institut im Haus E das Sagen hatten, wenig bis keinerlei Verständnis hatten, wie ich nach und nach von Andreas erfuhr. Es gab so Ende der 70er z.B. mal ein gut besuchtes Seminar von ihm über kritische Psychiatrie nach Castel, an welchem ich auch teilnahm.

Bing 

Robert Castel war ein französischer Soziologe, der in den 1960er Jahren mit Pierre Bourdieu zusammenarbeitete. Er interessierte sich für Psychoanalyse und Psychiatrie und unternahm eine kritische soziologische Analyse dieser Bereiche2

Die kritische Psychiatrie ist eine Richtung der Psychiatrie, die die Ansicht vertritt, dass ein "Verrückter" an sich nicht "verrückt" ist, sondern als eine Art Brennpunkt wirkt, in dem die pathologische Stimmung, die seine zugehörige Gruppe (meist die Familie) durchdringt, ihre Entladung findet3

In Bezug auf Castel näherte die kritische Psychiatrie sich Michel Foucault an und wandte sich dem Phänomen des sozialen Ausschlusses, der Exklusion zu2. Er versuchte zu verstehen, warum die Lohnarbeit, die – historisch gesehen – eine sozial verachtete Position gewesen war, nach und nach zum Modell wurde2

Quelle(n) 

1. Robert Castel  Wikipedia 

2. Kritische Psychiatrie - Lexikon der Psychologie - Spektrum.de 

3. Antipsychiatrieモ-Bewegung: Eine Institution steht am Pranger 

 

Das machte mich neugierig auf diesen Dozenten, der sich offenbar mit interessanten Themen beschäftigte

Somit besuchte ich bei Christinidis zunächst zwei Seminare über Althusser (ein einflussreicher französischer strukturalistisch gesinnter Marxist, der möglicherweise der Auslöser für weitere Seminare von Andreas war). Desweiteren mehrere Seminare über Foucault (von Althusser beeinflusst), auch ein Seminar über strukturelle Staatstheorie (hatte mit einem marxistischen Freund von ihm zu tun, der in Paris und später in Vincennes lehrte und ebenfalls von Althusser beeinflusst war: Nicos Poulantzas), und unter anderen beispielsweise ein Seminar „Körper und Macht“, was seine Königsberger Kollegen (frei nach Professor Abronsius aus dem Polanski-Film von 1967 Tanz der Vampire) besonders lächerlich und als verachtenswert ansahen – wie er mir erzählte. –

[Hierzu ist noch zu bemerken, dass gerade zu diesem Seminar Barbara und ich was Essentielles beitragen konnten. Wir hatten zu dieser Zeit – 1982 und 1983 - bei den Pfingstveranstaltungen ‚Volksuni‘ an der Freien Universität Berlin die Forschungen (mit der Methode der Erinnerungsarbeit) von Frigga Haug und ihren Mitarbeiterinnen über die Sexualisierung der weiblichen Körper ziemlich genau kennengelernt. Selbstverständlich dreht es sich hier ganz prinzipiell um das Thema „Körper und Macht“ – und dieser Forschungs-Gegenstand ist keinesfalls lächerlich; Ideen von Foucault gehören übrigens mit zu den Begriffsbildungen der zugehörigen Theorie. Wir konnten beim Christinidis-Seminar sogar das entsprechende Buch vorlegen: „Frauenformen 2. Sexualisierung der Körper“ herausgegeben von Frigga Haug. Argument-Sonderband AS 90, Berlin 1983. (Frigga Haug war eine der Hauptinitiatorinnen dieser ‚Volksuni‘ an der FU) ]

So kam es, dass seine vielfältigen Seminare zwar up to date bzgl. neueren geistigen Entwicklungen speziell in Frankreich waren, aber manchmal nur ziemlich wenige Teilnehmer hatten; was ich natürlich - und Barbara auch, die damals ebenfalls an der JLU studierte und bei den Christinidis-Seminaren öfters mit von der Party war - durchaus als positiv ansahen. Außerdem kamen Andreas und ich uns dadurch menschlich etwas näher, da ich nach und nach einer der regsten Teilnehmer seiner kleinen. sozusagen irregulären ‚Oberseminare‘ wurde.

 

Andreas Christinidis habe ich auch persönlich echt Wichtiges zu verdanken. Denn nun näherte ich mich langsam meinem 30-semestrigen Studien-Jubiläum. Und ich hatte die Idee eines Abschlusses so gut wie aufgegeben. Da meinte aber Andreas, ich solle doch unbedingt den Abschluss machen. Als ich ihm dann sagte – er selber war ja nicht prüfungsberechtigt – ich wüsste keinen zu dem ich gehen sollte, hatte er eine Antwort, die ich nie vergessen werde: „Einen gibt’s immer!“ Und tatsächlich besorgte er mir den EINEN: Einen Statistik-Prof, auf den ich im Leben nie gekommen wäre. Der wieder besorgte eine Psychologie-Professorin (für mein zweites Nebenfach), die am Sportwissenschaftlichen Institut (!) zu tun hatte, auf die ich ebenfalls nie gekommen wäre. Den Soziologie-Prof Bruno Reimann (für mein erstes Nebenfach) konnte ich selber beisteuern, da ich auch bei ihm so manches spezielle Seminar belegt hatte (z.B. über Sir Karl Popper oder über Sexualität - letzteres zusammen mit meiner Barbara im winterlich verschneiten, somit märchenhaft anmutenden Schloss Rauischholzhausen, das damals noch zur Universität gehörte). - Naja, und so kommt es, dass ich seit 1986 mehr oder minder stolzer „Magister“ bin, was ich ganz witzig finde, da die Magister im Mittelalter ziemlich lange studieren mussten, bevor sie sich ihren Titel verdient hatten (bis zu 18 Jahre - also DIE waren mir natürlich überlegen!).

 

Mit diesem Titel habe ich offiziell nicht das Geringste angefangen, da ich mich nirgends entsprechend bemüht habe. Aber z.B. Volker, mein Schwager, hatte die feste Meinung, dass ich keinen Studienabschluss hätte (was womöglich etliche, die mich kennen, ebenfalls so annehmen, da ich ja ‘nix bin’), und ich konnte ihm dann erklären, dass ich tatsächlich ‚Magister‘ bin. Das habe ich also dem Andreas Christinidis zu verdanken. Und das ist völlig ok so. Ich bin ihm dankbar dafür.

 

Unser Kontakt ist dann im Laufe der Jahre nach dem Magister langsam verblasst. Zuletzt traf ich ihn und seine Frau - ich denke mal, es war so Ende der 80er oder Anfang der 90er - vor dem damaligen ‚Horten‘ in Gießen. Seine dt. Frau machte ihm in unserem Beisein, Vorwürfe, dass er immer noch wie ein Schlot rauche, obwohl er es doch am Herz habe.

Ich glaube, er träumte vermutlich davon, in Athen an dem Omonia-Platz draußen an einem der diversen Kafenions zu sitzen, wenn er mal pensioniert war. Ja, ich sehe ihn da eigentlich mit so einem kleinen griechischen Rosenkranz-Click-Clack - "Komboloi" genannt - abundzu lässig nebenbei ein-zwei mal rumwirbeln.

 

 

 

83,1 -0003-CHRISTINIDIS-rechts MA-1, Makro. Color5-560

1983 Uni Gießen, Politik-Institut - Links Andreas Christinidis, rechts sein ‘Schüler’ Manfred Aulbach

 

 

 

 

 

AfE - Gelände “Phil II” - links die Cafeteria

IMG_6212-Phil2-Weg mit Cafeteria-560

 

 

 

 

 

 

 

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